26.02.2018, Uniklinik Essen. Bei eisiger Kälte finden wir nach einigem Suchen das Gebäude der Augenklinik, steigen in den Fahrstuhl und drücken „A1“, so wie die Ärztin uns das vor knapp einer Woche am Telefon gesagt hat. Nach kurzer Fahrt stoppt der Fahrstuhl. Durch den kleinen Lautsprecher an der Fahrstuhldecke sagt eine nüchterne Frauenstimme: „Station A1 – Tumorstation“.
Angekommen in der Hölle. Mir ist bewusst, warum wir hier sind, aber diese Ansage zerreißt mich innerlich. Das Wort „Tumor“ habe ich bisher nicht ausgesprochen, weil ich damit anerkennen würde, was uns vor einer Woche in der Uniklinik Eppendorf in Hamburg gesagt wurde. Ich kann das nicht anerkennen, dafür bin ich zu schwach.
Direkt nach der Geburt unserer zweiten Tochter fällt meiner Frau auf, dass etwas mit dem linken Auge nicht stimmt. Es wirkt kleiner, außerdem schielt sie mit diesem Auge extrem. Kann sich alles noch geben, sagen die Ärzte. Ich tue das Ganze gegenüber meiner Frau ab, sie mache sich einfach wieder zu viele Sorgen. Die Hormone halt. Es gibt sich nicht. Es folgen zahlreiche Besuche bei unterschiedlichen Ärzten und es wird immer klarer, dass irgendwas mit diesem Auge nicht stimmt. Eine Augenärztin nimmt gegenüber meiner Frau zum ersten Mal das Wort „Tumor“ in den Mund. Da könne im schlimmsten Fall ein Tumor hinter stecken. Ich bin entrüstet, als meine Frau davon berichtet. Wie kann die Ärztin so etwas sagen? Völliger Schwachsinn! Vielleicht kann unsere Tochter nicht gut mit diesem Auge sehen, aber es gibt wahrlich Schlimmeres. Wie kann sie uns mit diesem Wort nur so verunsichern? Wir beschließen da nicht mehr hinzugehen. Ein weiterer Augenarzt ist da sensibler. Da sei irgendwas in diesem Auge, was da nicht hingehöre. Wahrscheinlich harmlos, es mache keinen Sinn zu spekulieren, sondern es braucht eine fundierte Diagnose. Er überweist uns in die Uniklinik Eppendorf, weil er dort persönlich einen Professor kennt, der sich das mal anschauen soll. Meine Frau ist mittlerweile ziemlich verunsichert, ich beruhige sie, weil da nichts Schlimmes in dem Auge sein kann. Natürlich nicht, es wird harmlos sein, andere Gedanken lasse ich nicht zu.
In der Uniklinik schaut sich nicht nur der angesprochene Professor das Auge unserer Tochter an, sondern auch der Direktor der Augenklinik. Beide stellen ebenfalls fest, dass mit diesem Auge etwas nicht stimmt, aber sie wissen nicht genau was. Theoretisch käme ein Tumor in Frage, beide sind sich aber sehr sicher, dass dies nicht der Fall sein wird. Es sehe gar nicht danach aus. Dennoch raten sie zu einer Diagnostik in Vollnarkose, um einen Tumor definitiv auszuschließen und genauer beurteilen zu können, was mit diesem Auge nicht stimmt.
In den zwei Wochen bis zur Untersuchung in der Klinik kommt immer wieder ein ungutes Gefühl in mir auf. Was, wenn es etwas Schlimmes ist? Ich habe allerdings den Part desjenigen, der optimistisch sein muss, weil die Sorgen meiner Frau immer größer werden. Ich gehe jeden Tag arbeiten, hab in der Schule natürlich unheimlich viel Ablenkung und unsere große Tochter hält uns eh auf Trapp. Meine Frau ist den ganzen Tag mit unserer Kleinen zusammen und hat natürlich viel Zeit sich mit diesem Auge zu beschäftigen.
Am 21.02.18 sind wir morgens um 06.30 Uhr in der Klinik. Die Nacht war nicht gut, hätte aber auch schlimmer sein können. Unsere Tochter ist wegen der Vollnarkose seit knapp 4 Stunden nicht gestillt und dafür wirklich gut drauf. Meine Frau bleibt in unserem Aufenthaltszimmer, während ich mit unserer Tochter auf dem Arm Richtung OP fahre. Die Kleine ist echt entspannt, ich wiege und singe und nach ca. 30 Minuten Wartezeit übergebe ich sie an eine freundliche OP-Schwester. Ich gebe ihr einen Kuss auf die Stirn und sie ist weg. Kein Weinen. Nichts. Besser hätte es nicht laufen können. Meine Frau ist auch erleichtert, als ich ihr berichte, wie reibungslos die Übergabe verlaufen ist. Wir bestärken uns darin, dass so eine Untersuchung natürlich unangenehm ist, wir aber bald alle Unsicherheiten los sind und im schlimmsten Fall halt damit leben müssen, dass unsere Tochter auf einem Auge schlechter sehen kann. Die Untersuchung wird knapp 45 Minuten dauern. Ich habe mir Arbeit mitgenommen, um bloß nicht über das Geschehen im OP nachdenken zu müssen. Klappt gut. Meine Frau erinnert mich daran, dass wir noch ein Parkticket lösen müsse, um 6 Uhr ging das noch nicht. Ich mach mich schnell auf den Weg, löse ein Ticket und da klingelt mein Handy. Meine Frau. Die Untersuchung ist vorbei. Der Professor will uns jetzt sprechen, ich soll mich beeilen. Jetzt ist alle Gelassenheit verflogen. Er will uns beide sprechen. Warum? Ein schlechtes Zeichen? Ich sprinte den Weg zum Krankenhaus, drücke hektisch den Knopf am Fahrstuhl, um dann doch die Treppen hochzujagen. Ziemlich außer Atem klingle ich an der OP-Tür, sehe meine Frau, aber noch keinen Prof. Ich bin pünktlich. Gut. Ich habe Angst und diese Angst fühlt sich unerträglich an. Meine Frau fragt mich natürlich, ob es ein schlechtes Zeichen sei, dass er uns beide sprechen will. Ich kann nichts sagen. Wir warten. Ich weiß nicht mehr genau, was der Prof. gesagt hat, aber ich erinnere mich an seinen Gesichtsausdruck. Ernst und fast entschuldigend. Das Auge ist fehlgebildet, die Netzhaut vernarbt und es gibt keinen Sehnerv. Dieses Auge wird nie sehen können. Außerdem ist dort eine Raumforderung, flauschig weiß und mit Blutgefäßen versorgt. Das spricht alles für einen Tumor, auch wenn die Position nicht typisch ist. Nicht typisch für ein Retinoblastom. Ich weiß, dass dies ein bösartiger Netzhauttumor ist, der nur bei Kindern auftritt. Mehr weiß ich nicht, weil ich mich dazu gezwungen habe, dieses Scheißding nicht zu googeln. Um mechanisch noch ein paar Fragen loszuwerden, unterdrücke ich die Tränen. Noch gelingt es. Wenn es ein Retinoblastom wäre, müsse das Auge wohl raus. Mit einem Auge könne sie aber gut leben, sagt er. Wäre halt nur schmerzhaft, deshalb möchte er unbedingt noch die Zweitmeinung eines Spezialisten aus Essen. Überhaupt seien die Überlebenschancen gut. Es geht also ums Überleben. Ich frage, ob man nicht eine Gewebeprobe entnehmen könne, um festzustellen, ob das Ding vielleicht doch gutartig ist. Das wäre ein Kunstfehler, sagt er. Ist es bösartig, würde man Tumorzellen in umliegendes Gewebe streuen. Scheiße. Wir sollen jetzt erstmal alles sacken lassen und gleich einen Termin in Essen machen.
Wie fühlt man sich in so einem Moment? So wie man sich das vorstellt. Jeder hat bestimmt schon einmal so eine Situation in seinem Kopf durchgespielt und dann meist schnell an etwas anderes gedacht, weil das Gefühl unerträglich war. Da ist ganz viel nackte Angst. Hilflosigkeit. Ich fühle mich schuldig, weil ich als Vater meine Tochter nicht beschützen kann. Panik. Irgendwie bleibt das Leben stehen und ich fühle mich innerlich tot. Ich kann meine Frau nicht anschauen. Ich habe Angst davor ihre Verzweiflung zu sehen und nichts tun zu können. Noch viel schlimmer ist die Vorstellung meine Tochter zu sehen und ihr nicht helfen zu können.
Unsere Tochter ist aus der Narkose erwacht und muss geholt werden. Ich signalisiere meiner Frau, dass ich das nicht kann und bin dankbar, dass sie sich auf den Weg macht. Noch bevor ich aus dem OP komme, breche ich in Tränen aus. Viel mehr weiß ich von diesem Tag nicht mehr. Irgendwie haben wir den Termin in Essen bekommen und sind nach Hause gefahren. Ich erinnere mich noch an die Frage einer Ärztin, ob es uns Dienstag passen würde. Ich habe die Frage nicht verstanden. Wie könnte es uns nicht passen? Alles andere ist doch egal. Vor der Rückfahrt rufe ich noch meine Schulleitung an, um ihr zu sagen, dass ich in den kommenden Tagen nicht in die Schule kommen kann. Es bleibt allerdings bei einem Versuch, weil zwischen die Tränen nicht genug Worte passen. Ich schreibe eine Mail. Alles weitere Organisatorische erledige ich auch per Mail oder Kurznachricht. Freunde und Familie informieren, Vertretung organisieren, Reise nach Essen planen und schauen, dass unsere zweite Tochter während unseres Aufenthalts in Essen versorgt ist. Sie kann unmöglich dabei sein. Abends ruft noch mein bester Freund an, aber nach der Telefonerfahrung mit meiner Schulleitung gehe ich nicht ran. Kurze Nachricht, dass ich nicht sprechen kann.
Die vier Tage bis zur Abreise nach Essen sind nur ein schwarzer Fleck in meinem Kopf. Ich schlafe kaum, mag nicht essen und trinken. Krank bin ich auch. Aber alles egal. Meine Frau und ich müssen ja funktionieren. Einer funktioniert auch immer und ist stark. Der andere weint dann meist irgendwo oder schlägt auf ein Möbelstück ein. Gemeinsam sind wir selten stark. Am Donnerstagmorgen, nachdem ich meine große Tochter in die Kita gebracht habe, sitze ich auf dem Sofa und sage unter Tränen zu meiner Frau, dass unser Kind Krebs hat. Für einen kurzen Augenblick können wir gemeinsam weinen. Sie hat mit einer Ärztin aus Essen telefoniert, die uns eine Unterkunft im Haus für Eltern krebskranker Kinder angeboten hat. Die Vorstellung ertrage ich nicht. Solange es noch nicht absolut sicher ist, weigere ich mich anzuerkennen, dass ich der Vater eines krebskranken Kindes bin. Wir übernachten in einer Ferienwohnung.
Am Sonntag machen wir uns auf den Weg nach Essen. Mit dabei ist ein Schutzengel. Die Mutter eines Schülers aus einer meiner Deutschklassen hat ihn mir mit einem Brief in den Postkasten geworfen.
Es ist die Aufgabe von uns als Eltern, unsere Kinder zu beschützen. Wir setzen alles daran, Gefahren von ihnen abzuwenden. Gegen einige von ihnen sind wir machtlos und wir müssen uns auf Erfahrungen, Fähigkeiten und Kräfte anderer verlassen.
Aber auch ein starker Wille, viel Liebe von der Familie, Zusammenhalt und das Mitgefühl aus dem Umfeld helfen in dieser unwirklichen Zeit.
Dies ist ein kleiner Ausschnitt aus diesem Brief, der mich bis heute berührt und der auf den Punkt bringt, was hilft, wenn man sich verloren fühlt.
Ich schlafe in der Nacht von Sonntag auf Montag vielleicht drei Stunden, Frühstück bekomme ich nicht runter. Nach 15 Minuten Fahrt zur Klinik und etwas Suchen betreten wir den Fahrstuhl, der uns zur Station A1 bringt. Wir müssen diesen Fahrstuhl an diesem Tage noch einige Male nutzen und ich frage mich schon beim ersten Mal, wer auf die Idee gekommen ist, die Nutzer dieses Fahrstuhles bei jeder Fahrt daran zu erinnern, dass sie sich auf einer Tumorstation befinden.
Wir öffnen zögerlich die Tür zur Kinderkrebsstation und werden gleich von einer freundlichen Erzieherin begrüßt, die uns in ein leeres Spielzimmer führt, damit wir in Ruhe auf das Gespräch mit der Ärztin warten können. Heute sind nur Vorgespräche, morgen ist dann die Untersuchung der Augen (Augeninspektion) in Vollnarkose. Als meine Frau etwas zu Trinken sucht und ich alleine mit unserer Tochter im Spielzimmer bin, kommt eine Krankenschwester, streichelt mir die Schulter und begrüßt herzlich unsere Tochter, die sie sofort freudig anstrahlt. „So gut sind die Kinder sonst nicht drauf, die hier sind.“ Sie meint das nett, aber es versetzt mir einen Stich ins Herz, wenn ich daran denke, was auf uns zukommen kann. Die Vorstellung, dass unsere Kleine Schmerzen haben wird, vor denen ich sie nicht beschützen kann, macht mich wahnsinnig.
In Krankenhäusern lernt man geduldig zu sein. Hier denkt man nicht in Minuten, sondern in Stunden. In den Stunden bis zum Gespräch mit der Ärztin hat man viel Zeit, mit der Situation klarzukommen und sie anzunehmen. Ich stelle mir vor, welches Zimmer wir bekommen werden, wie unser Leben aussehen wird, wenn wir für einige Zeit in Essen leben müssen, was wir mit unserer großen Tochter machen, was mit meiner Arbeit wird.
Wenn sich die Diagnose aus Hamburg bestätigt, müssen wir uns auf einen langen Weg einstellen, sagt sie Ärztin. Vielleicht alle zwei Wochen nach der Entfernung des Auges eine Untersuchung in Vollnarkose, um zu schauen, ob im anderen Augen auch ein Tumor wächst. Was ihr Sorge macht ist ein Untersuchungsausergebnis aus Hamburg, in dem festgestellt wurde, dass die Durchblutung in der Aderhaut stärker als normal ist. Wenn es sich um ein Retinoblastom handele, könnte Eile geboten sein, da die Gefahr bestünde, dass Krebszellen aus dem Auge ins zentrale Nervensystem wandern. Ich weiß nicht, ob ich sofort losheulen oder doch kotzen soll. Es ist ein Albtraum.
Nachdem alle Formalitäten für die Vollnarkose erledigt sind, fahren wir in unsere Ferienwohnung. Ein wenig essen und schlafen. Wenn ich es schaffe kurz einzuschlafen und im Traum die derzeitige Situation für einen Augenblick zu vergessen, ist das Aufwachen umso mieser. Sofort schießen die dunklen Gedanken in den Kopf und treffen einen um so härter. Überhaupt fühlt sich alles hohl und dunkel an. Nur wenn man weint, fühlt man sich lebendig.
Um 6 Uhr sind wir wieder auf der Kinderkrebsstation. Komischerweise ist heute alles schon vertraut, ich fühle mehr, dass wir hier hingehören. Das Warten auf die Untersuchung beginnt und ich gehe mit meiner Tochter auf dem Arm durch die Gänge der Station. Dreimal müssen die Augen getropft werden und die Schwestern sind wieder total begeistert, dass unsere Kleine das ohne jedes Klagen hinnimmt, sogar jeden anlächelt. Ich kämpfe ständig mit den Tränen, will mich aber unbedingt zusammenreißen. Heute ist große Retinoblastom-Sprechstunde und langsam trudeln Eltern mit ihren Kindern ein. Ein Vater mit seiner Tochter, die ich auf ca. 4 Jahre schätze. Ich sehe, dass sie ein Glasauge hat und frage mich, was sie wohl schon durchmachen musste. Sie spielt fröhlich und ihr Vater wirkt stark. Ich bewundere ihn.
Das Bett meiner Tochter wird vorbereitet, es geht gleich los. Ein Schild mit ihrem Namen wird angebracht und eine Schwester malt ein Herz und eine Sonne dazu, weil unsere Kleine immer so fröhlich ist. Jetzt muss ich sie doch mal kurz an meine Frau abgeben, weil ich die Tränen nicht zurückhalten kann.
Mit dem Fahrstuhl geht es zum OP. Meine Frau übergibt unsere Tochter an eine Schwester und wir setzen uns gemeinsam vor den OP. Eine Hand ist immer am Schutzengel. Wir sagen nichts und ich kann mich auch nicht mehr daran erinnern, was ich in dieser Zeit gemacht oder gedacht habe.
Es ist 8:32 Uhr. „Familie von Amsberg?“ Wir springen sofort auf und gehen zu der Oberärztin, die die Untersuchung geleitet hat. „Wir vermuten am ehesten eine komplexe Fehlbildung. Auf dem linken Auge wird ihr Kind nie etwas sehen können. Wir gehen allerdings NICHT von einem Tumor aus. Der Prof. möchte heute Nachmittag noch mit Ihnen sprechen und wird Ihnen dann alles genau erläutern.“ Sie sagt glaub ich noch mehr, ich kann mich aber an nichts mehr erinnern. Meine Frau und ich fallen uns in die Arme und wir weinen zum ersten Mal gemeinsam. Zum ersten Mal fühlt es sich auch gut an. Tief im Inneren habe ich von diesem Satz geträumt, wollte aber nicht daran glauben, um bei einem schlechten Befund nicht noch tiefer zu fallen. Ich schaue auf mein Handy. 27.02.2018. Ich hätte auf den 22.02.2018 getippt. Nach der ersten niederschmetternden Diagnose war die Zeit für mich stehen geblieben. Jetzt spüre ich wieder etwas, möchte Freunde/Bekannte informieren und ich will meine Tochter sehen. Es fühlt sich an, als ob ein schwerer grauer Vorhang fällt und den Blick auf das Leben freigibt.
Am 28.03.2018 soll ein weiteres MRT in Vollnarkose den Befund, dass es sich um keinen Tumor handelt, bestätigen. Es kommt anders.
Bis zu diesem Termin arbeiten wir an der „Normalisierung“ unseres Lebens. Je näher der Termin rückt, desto schwieriger wird es. Am 28.03.2018 dann unsere Rückkehr auf die Tumorstation, wieder stundenlanges Warten bis zur Untersuchung. Diesmal darf ich bei der Einleitung der Narkose dabei sein und ich bewundere unsere Tochter, die bis zum Einschlafen die Ärzte amüsiert. Nach gut zwei Stunden ist die Untersuchung vorbei und wir sehen unsere Tochter im Aufwachraum wieder. Wir fragen, wann wir das Ergebnis besprechen können und merken, dass wir natürlich naiv waren. Wir bekämen so in 1-2 Wochen einen Anruf. Die Hoffnung diesen Albtraum endlich hinter uns lassen zu können, zerschlägt sich in Bruchteilen einer Sekunde. Meine Frau hat im Gegensatz zu mir die Gabe, sehr hartnäckig zu sein und auch mal penetrant zu nerven, um ans Ziel zu kommen. Sie schafft es, dass wir den Professor sprechen können, der die Untersuchung geleitet und uns beim letzten Gespräch in Essen so viel Hoffnung zurückgegeben hat. Wir kommen in sein Büro und er fragt uns tatsächlich, wie uns aufgefallen sei, dass etwas mit dem Auge unserer Tochter nicht stimmt. Genau diese Frage hatte er uns am 27.02.2018 zu Gesprächsbeginn auch gestellt. Uns wird klar, dass er sich also weder an uns noch an die erste Untersuchung unserer Tochter erinnert. Er sagt uns, dass er die MRT-Ergebnisse mit Tumorspezialisten besprechen müsse, er könne jetzt die Bilder noch nicht einsehen. Das Auge solle aber auf jeden Fall raus, es wird schrumpfen und dadurch würde die Augenhöhle nicht mitwachen.
Voller Zuversicht angereist, sind wir jetzt wieder mitten drin im Albtraum. Trotzdem ist es anders. Die Fallhöhe ist erträglicher.
Während ich bisher einigermaßen parallel zu den Ereignissen an diesem Bericht geschrieben habe, ist das Folgende mit einigem zeitlichen Abstand verfasst.
Die MRT-Bilder bestätigen, dass es sich wahrscheinlich nicht um einen Tumor handelt, machen aber eine neue Baustelle auf. Gut die Hälfte des Kleinhirns kann nicht abgebildet werden und scheint nicht angelegt zu sein. Vereinfacht ausgedrückt ist das Kleinhirn für alle Bewegungsabläufe zuständig und die Folgen dieses Befundes sind völlig unklar. Es kann kaum Folgen haben oder zu einer körperlichen Behinderung führen. Wir werden an eine Neurologin überwiesen, die sich die MRT-Bilder mit weiteren Experten anschauen soll. Es vergeht eine weitere Woche, in der wir völlig im Unklaren sind. Ich arbeite wieder und tue mich sehr schwer damit allen beruflichen Anforderungen gerecht zu werden. Dann kommt das Ergebnis. Im Kleinhirn befindet sich eine große Zyste, die die Hälfte des Kleinhirns verdrängt hat. Verdrängt. Es ist also nicht weg, sondern nur woanders. Das ist eine verhältnismäßig gute Nachricht. Problematisch ist, dass man nicht viel machen kann. Die Zyste ist mit Nervenflüssigkeit gefüllt, lässt man diese ab, verändern sich die Druckverhältnisse im Gehirn und das macht meist mehr Probleme, als die Zyste. Wir müssen hoffen, dass die Zyste sich nicht verändert, also nicht größer wird und z.B. Druck auf das Stammhirn ausübt. Im September wird es das nächste MRT geben, in dem geschaut wird, ob die Zyste stabil geblieben ist.
Bleibt das Auge. Der Prof. aus Essen möchte es möglichst bald entfernen. Bei so einem weitreichenden Eingriff reicht uns aber nicht die Meinung eines Menschen, also holen wir weitere Meinungen von Spezialisten ein. Dabei wird immer klarer, dass unsere Tochter eine Fehlbildung des Auges hat, die so niemand bisher gesehen bzw. beschrieben hat. Was für die meisten Ärzte spannend ist, bedeutet für uns in erster Linie, dass niemand prognostizieren kann, wie sich das Auge entwickeln wird. Es wird blind bleiben, das ist klar. Ob es allerdings so weit schrumpfen wird, dass es Schmerzen verursacht und folglich entfernt werden muss, ist nicht eindeutig. Deshalb beschließen wir das Auge nicht entfernen zu lassen, solange es unserer Tochter keine Probleme bereitet. Stattdessen erhält sie eine sogenannte Skleralschale, die auf den Augapfel gelegt wird und wie eine große Kontaktlinse aussieht. Durch diese Skleralschale wird Druck auf die Augenhöhle ausgeübt, die dadurch Wachstumsimpulse erhält. Das Einsetzen und Reinigen dieser Schale ist zwar unangenehm (besonders für die Eltern), unsere Tochter macht aber alles tapfer mit. Alles Weitere wird die Zeit zeigen.
Ich bin zurück im Leben. Aber anders. Wenn ich das schreibe, klingt es irgendwie pathetisch, aber so fühlt es sich an. Ich war getrieben davon mein berufliches Handeln immer weiter zu optimieren und war bereit, dafür unglaublich viel Zeit zu investieren. Ich habe sehr viel Material erstellt, Konzepte entwickelt und mich an Diskussionen beteiligt. Das ist immer noch ein Teil von mir. Aber ich habe erlebt, wie es sich anfühlt, wenn das eigene Kind sterben könnte. Keine Diskussion und berufliches Streben können wichtiger sein, als Zeit mit meinen Kindern. Wie oft habe ich aber in den letzten Jahren der Arbeit den Vorzug geben, anstatt meinen Kindern vorzulesen, Ostereier zu bemalen oder Einhorn zu spielen? Viel zu oft. Ich will das nicht mehr und das ist keine kognitive Entscheidung.
Wir haben auf der Tumorstation Eltern von krebskranken Kindern kennengelernt, die nicht so viel Glück hatten wie wir. Mir geht ein junges Paar nicht mehr aus dem Kopf, das direkt nach uns eine niederschmetternde Diagnose für ihr drei Monate altes Baby bekommen haben.
Um zumindest ein klein wenig den Betroffenen von Augentumoren helfen zu können, spende ich ab sofort und rückwirkend für 2018 sämtliche Erlöse aus dem Verkauf von Ivi-Arbeitsheften, die ich erstellt habe, an die Kinderaugenkrebsstiftung. Die erste Überweisung ist schon raus und selten hat es sich so gut angefühlt Geld auszugeben. Wer auch helfen möchte, muss dazu natürlich nicht meine Arbeitshefte kaufen, sondern kann unter kinderaugenkrebsstiftung.de direkt spenden.
Ich empfinde Bewunderung für die Eltern, die durch diese unwirkliche Zeit gehen müssen. Oft über Jahre und nicht wie bei uns ein paar Monate. Ich ziehe meinen Hut vor den Krankenschwestern und Pflegern, die auf einer Kinderkrebsstation arbeiten. Sie müssten eigentlich die Top-Verdiener*innen in unserer Gesellschaft sein. Ich bin all den Menschen, die an uns gedacht und Mut zugesprochen haben unendlich dankbar. Wenn man als Elternteil machtlos ist und sein eigenes Kind nicht beschützen kann, ist es das einzige, was einem Halt und Kraft gibt.
Wir haben sicherlich noch einen längeren Weg vor uns und werden alle Schritte gehen, die nötig sind. Wir sind zurück im Leben, wenn auch anders.
7 thoughts on “Zurück im Leben, aber anders.”
Meine Schwester war mit ihrer neugeborenen Tochter beim Kinderarzt. Dieser hat ebenfalls ein Tumor festgestellt. Danke für den Tipp, auf jeden Fall eine kardiologische Zweitmeinung in einer Augenklinik einzuholen.
Ich wünsche der Tochter deiner Schwester alles erdenklich Gute und drücke alle Daumen!
Respekt für deinen Mut, deine Geschichte hier so zu posten. Ich wünsche euch viel Kraft!
Hallo Marcus,
heute, nach fast 3 vergangenen Jahren, habe ich Deinen Blog gelesen! Ich möchte Dir für Deine Offenheit danken! In diesen 3 Jahren erlebe ich meine kleine Enkelin nun wöchentlich und genieße ihre Fröhlichkeit und ihre kindliche, unkomplizierte, Art, in der sie z.B mich auch darüber „ aufklärt“, dass sie „ eben nur mit einem Auge sieht!“
Euch Beiden wünsche ich für den weiteren Weg. Kraft und Zuversicht und bin weiterhin gern unterstützend an Eurer Seite!
Gerhild
❤️
Danke für deinen Bericht, befinden uns gerade mittendrin in dieser Hölle und beim Lesen ist jede Zeile genau so empfunden worden, wie du sie umschreibst. Wie gleich wir Eltern doch ticken und wie oft sich dieser Alptraum bereits wiederholt hat. „A1 Tumorstation“ und das „Haus für krebskranke Kinder“, diese Worte hauen einen förmlich um, aber dennoch steckt da so viel Herzlichkeit, Verständnis und Hingabe drin. Wir sind dankbar, in so einem Land und so einem System Leben zu dürfen, auch wenn alle schimpfen und vieles nur durch Spendengelder bzw. NICHT vom Staat ermöglicht wird. Danke an Alle Mitwirkenden!!!
Ja man könnte meinen, dass da viel Masochismus dahinter steckt, wenn man bei so einer Diagnose, nach Leidensgenossen sucht und sich diese Berichte reinzieht, aber dennoch gibt es einem das Gefühl „nicht nur du hast die A-Karte des Lebens gezogen“, also heißt es weitermachen und beten, dass alles wieder gut wird.
Alles Gute und ein wundervolles gesundes Leben wünschen wir Euch.
Familie Höppner
Zunächst wünsche ich euch von ganzem Herzen, dass alles den bestmöglichen Weg geht. Dafür sind alle Daumen gedrückt!
Danke für deine Rückmeldung und ich schließe mich deinen Worten an. Die Menschen, die auf „Krebsstationen“ arbeiten, haben ganz viel Anerkennung verdient.
Liebe Grüße
Marcus